Liebe Nonfictionists,
in der letzten Ausgabe habe ich es schon angekündigt: Dieses Jahr bin ich offiziell Sahcbuchpreisbloggerin, deshalb wird das hier eine kleine Sachbuchpreis-Spezialausgabe. Gemeinsam mit sieben Kolleg:innen begleite ich online den Deutschen Sachbuchpreis 2024, lese (mindestens) mein „Patenbuch“ und gebe eine Meinung dazu ab. Für alle, die noch keinen Überblick haben, hier alle nominierten Titel:
Mein Ziel ist, bis zur Preisverleihung am 11.06. möglichst viele Titel gelesen zu haben – bisher habe ich mir 3/8 Titel angesehen. In dieser Ausgabe geht es um Jens Beckerts „Verkaufte Zukunft“, Frauke Rostalskis „Die vulnerable Gesellschaft“ und um mein offizielles Patenbuch „Das deutsche Alibi“ von Ruth Hoffmann. Let’s go!
Wie kann es eigentlich sein, dass wir von der Klimakrise bereits seit Jahrzehnten wissen, sich aber politisch und gesellschaftlich so wenig bewegt? Jens Beckert ist Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie und argumentiert in „Verkaufte Zukunft“, dass die Klimakrise eine dem Kapitalismus inhärente Begleiterscheinung ist. Beide sind untrennbar miteinander verbunden. Eine Wirtschaftsordnung, deren Basis das konsistente Wachstum ist, muss in einer Welt mit begrenzten Ressourcen zu Verheerungen führen. Die kapitalistische Wirtschaftslogik, die Gewinnmaximierung als oberste Priorität definiert, wird z. B. ökologische Alternativen, die zunächst kostenintensiver sind, als unattraktiver bewerten. Verflechtungen von Politik und Wirtschaft sowie wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse und widerstreitende Interessen erschweren es, notwendige Entscheidungen durchzusetzen. Es fehlen die Anreize. Oder anders gesagt: Die existierenden Anreize sind stärker und die Politik oft nur an kurzfristigen Gewinnen interessiert, die den Machterhalt sichern.
Beckert wirft aber nicht nur einen Blick auf Wirtschaft und Politik, sondern auch auf den einzelnen Menschen innerhalb kapitalistisch geprägter Gesellschaften. Konsum ist ein identitätsstiftendes Element, das nicht unwesentlich zu seiner Attraktivität beiträgt. Wir definieren uns über die Kleidung, die wir tragen, über unsere Wohnungseinrichtung, über unsere Reisen, über unsere Ernährung. Als besonders einleuchtend empfand ich auch Beckerts Blick über den Tellerrand des globalen Nordens, wo die meisten Treibhausgase emittiert werden. Der globale Süden, insbesondere Teile Afrikas, wird noch immer für Ressourcen ausgebeutet – auch für Ressourcen im Übrigen, die für eine klimafreundliche Wirtschaft notwendig sind. Gleichzeitig würden auch ärmere Länder des globalen Südens mit zunehmendem Wohlstand und fortschreitender Modernisierung vermehrt CO2 ausstoßen. Weder Wohlstand noch Modernisierung kann man ihnen – generell und mit Blick auf die Geschichte – verweigern.
„Wenn aber die Länder, die historisch betrachtet kaum CO2 emittiert haben, selbst immer mehr zu bedeutenden Emittenten werden, steigen die Treibhausgasemissionen stetig weiter, selbst wenn sie in den entwickelten Industrieländern zurückgehen. Der globale CO2-Ausstoß würde sich vervierfachen, weitere sich der Lebensstandard der Industrieländer auf die ganze Welt aus.“ (S.93)
Beckert analysiert die Verstrickungen und Schwierigkeiten sehr anschaulich und will am Ende nicht zu düstere Prognosen abgeben. Nichtsdestotrotz sind seine klugen Betrachtungen natürlich nicht dazu geeignet, große Hoffnungen auf zukünftige Veränderungen zu wecken. So schnell, wie es gehen müsste, wird es wohl nicht gehen. Sehr lesenswert, wenn man verstehen will, warum so wenig passiert, obwohl (fast) alle es besser wissen!
Jens Beckert: Verkaufte Zukunft. Suhrkamp Verlag. 238 Seiten. 28,00 €.
2024 jährt sich das sogenannte „Stauffenberg“-Attentat zum achtzigsten Mal. Eine gute Gelegenheit, um einen kritischen Blick auf die Rezeption des Ereignisses zu werfen, das die Bundesrepublik auch lange nach Kriegsende noch intensiv beschäftigte. Historikerin Ruth Hoffmann gelingt mit „Das deutsche Alibi“ eine eindrückliche Mentalitätsgeschichte deutschen Erinnerns, insbesondere in Bezug auf den Widerstand gegen Hitler. Mit Beginn im Jahr 1945 spannt sie einen weiten Bogen bis zur Gegenwart und macht deutlich, wie der 20. Juli 1944 immer wieder für Parteipolitik oder Ideologie instrumentalisiert worden ist – und wie sich die Perspektive auf die Widerstandskämpfer:innen geändert hat. Direkt nach Kriegsende galten Stauffenberg, von Tresckow u. a. vor allem als Verräter:innen.
„Deutschland treffe ‚die geringste Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs‘, tönte Hedler (Anmerkung S.W.: Wolfgang Hedler, Bundestagsabgeordneter der Deutschen Partei) an jenem Novembertag, vier Jahre nach Kriegsende. ‚Schuld an unserem Ende tragen die Widerstandskämpfer.‘ An ihrem ‚Verrat‘ sei Deutschland zugrunde gegangen. Mit dieser Ansicht stand Hedler nicht allein da. Viele Deutsche sahen in den Akteuren des 20. Juli 1944 noch immer Verräter und machten sie mitverantwortlich für den verlorenen Krieg. Es war die zweite Dolchstoßlegende der deutschen Geschichte, und sie sollte sich noch bis weit in die 70er-Jahre halten.“ (S.16)
Hoffmann beschreibt die Atmosphäre der 50er-Jahre, die gescheiterte Entnazifizierung und der daraus folgende Aufstieg alter Nazigrößen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Zwar ist einem das nicht neu, wenn es aber mit so konkreten Beispielen unterfüttert wird, wie Hoffmann sie liefert, ist es manchmal schwer zu ertragen und aus heutiger Perspektive unvorstellbar.
„In der britischen Besatzungszone, zu der Braunschweig gehörte, waren inzwischen so viele ehemalige NS-Juristen in den Dienst zurückgekehrt, dass selbst das zuständige Ministerium feststellen musste, ‚die personelle Besetzung der Gerichte‘ böte ‚im Wesentlichen genau das gleiche Bild … wie im Jahre 1945 vor dem Zusammenbruch‘.“ (S.37)
Im Laufe der Zeit, insbesondere in Opposition zur Erinnerungspolitik der DDR, wurde der Widerstand des 20. Juli 1944 zu einer Art Gründungsmythos der Bundesrepublik umgedeutet und zur Entschuldung der Deutschen insgesamt herangezogen. Viel Heldenmut, viel Opferbereitschaft und Freiheitsliebe – in diesem Licht sonnte man sich gern, als schon kaum noch jemand wusste, wer zum Kreis der Widerstandskämpfer:innen des 20. Juli 1944 gehört hatte. Zunehmend unter den Tisch fiel bei dieser glorifizierenden Betrachtung allerdings, dass es lange vor dem 20. Juli 1944 Widerstand gegeben hatte: zivilen Widerstand, sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstand.
Ruth Hoffmann zeigt auf, wie dieser Widerstand immer wieder delegitimiert und kleingeredet wurde. Insbesondere der kommunistische Widerstand fand in Zeiten des Kalten Krieges praktisch keine Erwähnung. Zeitweilig wirkte es fast, als sei das „Stauffenberg-Attentat“ das einzige, das jemals verübt wurde – oder mindestens das einzige, das Erwähnung verdiente. Manche waren der Ansicht, als Widerstand seien ohnehin nur Handlungen unter Einsatz des eigenen Lebens zu werten. Hoffmann widmet den Verstrickungen der Widerstandskämpfer:innen des 20. Juli 1944 ein ganzes Kapitel. Während andere für ihren Widerstand schon lange im KZ saßen, waren Teile der späteren Widerstandskämpfer:innen aus dem Stauffenberg-Tresckow-Kreis noch immer glühende Anhänger nationalsozialistischer Ideologie.
„Gerade Claus von Stauffenberg ist dafür das beste Beispiel: Der Mann, der später zu der zentralen Figur des Umsturzversuchs werden sollte, nahm im September 1939 noch in voller Überzeugung, das Richtige zu tun, am Feldzug gegen Polen teil.“ (S.127)
Die Spaltung und Delegitimation bestimmter Teile des (ohnehin überschaubaren) Widerstands ist ein Thema, das über Jahrzehnte die Bundesrepublik beschäftigt und Hinterbliebene, Angehörige und Überlebende entzweit hat. Ich bin sehr begeistert von Ruth Hoffmanns minutiöser Aufarbeitung dieses Themas samt all seiner Wendungen, Vereinnahmungen und Skandale über die Jahrzehnte – unmöglich, dass hier an dieser Stelle alles aufzuführen, auch wenn ich gern würde. Man kann bei der Lektüre so viel über die deutsche Nachkriegsgesellschaft und ihre Prioritäten lernen, so viel über Erinnerungspolitik und die Notwendigkeit, formelhaften Gedenkphrasen auch Taten folgen zu lassen. Ich würde diesem Buch den Sachbuchpreis sehr gönnen!
Ruth Hoffmann: Das deutsche Alibi. Goldmann Verlag. 400 Seiten. 24,00 €.
Welche gesellschaftlichen Herausforderungen entstehen, wenn Menschen sich zunehmend als verletzlich wahrnehmen? Ist Verletzlichkeit nicht eine gute und vor allem unumstößliche Tatsache menschlicher Existenz? Die Rechtswissenschaftlerin Frauke Rostalski widmet sich der Frage vor allem vor dem juristischen Hintergrund ihrer Profession. Denn mit einer gesteigerten Vulnerabilität gehen, so Rostalski, fast immer auch eine verstärkte Risikowahrnehmung und der Ruf nach Gesetzesänderungen oder -verschärfungen einher, die das (empfundene oder bestehende) Risiko abmildern sollen. Wo immer mehr gesetzliche Reglementierung herrscht, schwindet der Raum für persönliche Auseinandersetzung ohne Einmischung des Staates. Menschen verlieren die Fähigkeit, selbstwirksam Konflikte zu lösen und Resilienz zu entwickeln, wenn die eigene Verletzlichkeit zu großen Raum einnimmt. Und dieser Verlust hat unweigerlich Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft.
Sie liefert einige Beispiele für bereits bestehende Gesetzesänderungen, die aus einer veränderten Vulnerabilität hervorgegangen sind. Verschärfungen des Sexualstrafrechts etwa, den neu geschaffenen Paragraphen §192a StGB, der Herabsetzung und Hetze aufgrund ahnden soll, die bislang weder unter dem Straftatbestand der Beleidigung noch der Volksverhetzung erfasst werden kann. Obwohl Frauke Rostalski immer wieder betont, dass sie keine inhaltlichen Wertungen vornehmen wolle, funktioniert das bei Themen wie dem Ukrainekrieg oder der Corona-Pandemie nicht so problemlos. Ich halte persönlich ihre Mahnung für durchaus bedenkenswert und gerechtfertigt, einige ihrer Beispiele aber haben mich nur bedingt überzeugen können; etwa wenn es um Hass und Hetze im Netz oder eine verpflichtende Masernimpfung geht, obwohl die Masern ein (Zitat) „Risiko“ seien, „das die Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten kennt und das in seiner Höhe durchaus überschaubar ist“ (Zitat Ende). Das kann man so sehen; allerdings sollte man dann die zunehmend sinkende Impfbereitschaft und steigende Masernfälle nicht unerwähnt lassen – auch wenn man sich jeder Wertung der Entwicklungen enthalten will.
Ich habe zu Rostalskis Buch einen längeren Blogartikel geschrieben. Bei Interesse hier entlang.
Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft. C.H. Beck. 189 Seiten. 16,00 €.
Damit sind wir am Ende dieses etwas überdimensionierten Newsletters. Ich hoffe, ich konnte etwas Interesse an den Titeln und Themen wecken und gebe mir Mühe, vor der Preisverleihung noch mal eine Ausgabe rauszuschicken. Bis zum nächsten Mal und vielen Dank fürs Lesen!
Sophie
der Punkt bei Stauffenberg ist, dass Hitlers Anweisungen, die Abwehr gegen die Rote Armee in der SOmmer Offensive zu nichte gemacht hat. Damit gab es eine Wut der Offiziere gegen den "Führer". Auch das gehört in den Komplex Widerstand hinein, wird heute meistens ausser acht gelassen. Es war auch ein Widerstand gegen militärische Inkompetenz.