Liebe Nonfictionists,
es ist Zeit für Ausgabe drei und da sich das Jahr langsam dem Ende zuneigt, habe ich diesmal nicht nur drei Buchtipps im Gepäck (die ich explizit auch als Geschenktipps für untern Weihnachtsbaum verstanden wissen möchte), sondern auch meine höchst subjektive Top-Ten-Liste für 2023. Welche Sachbücher haben mich in diesem Jahr besonders beeindruckt? Wo wurden mir wirklich neue Perspektiven eröffnet? Diese Ausgabe wird also ein bisschen länger und vollgepackter als sonst, aber wenn nicht jetzt, wann dann, oder?
Robert Kolker – Hidden Valley Road
Dieses Buch ist eine gelungene Mischung aus Biographie und medizinhistorischem Essay, so spannend und einnehmend erzählt, dass ich wirklich begeistert war! Im Mittelpunkt von Kolkers Recherchen steht die Familie Galvin, die rein äußerlich betrachtet als der Inbegriff des amerikanischen Traums gelten kann: Don Galvin arbeitete erfolgreich bei der Air Force, seine Frau Mimi kümmerte sich um Haushalt und Kinder (Anmerkung: Es ist eine Zeit, in der Rollenbilder wie diese als erstrebenswert gelten). Die Galvins sind allerdings selbst für damalige Verhältnisse eine extrem kinderreiche Familie. Zwölf Kinder bringt Mimi zwischen 1945 und 1965 zur Welt, sechs ihrer Söhne erkranken im Laufe ihres Lebens an Schizophrenie.
„Was war diesen Kindern widerfahren, während sie sich in ihrer Obhut befunden hatten? Was hatte sie so werden lassen? Was für Eltern waren sie? Die Handlungsvorgabe war damit klar: Sollte am eigenen Kind etwas seltsam erscheinen, durfte man auf keinen Fall einen Arzt zu Rate ziehen.“
Dieses Schicksal wird die Familie für immer prägen – aus verschiedenen Gründen. Einerseits erkranken die Galvinbrüder zu einer Zeit, in der die Schizophrenieforschung noch in den Kinderschuhen steckt und sich Fachmenschen außerordentlich uneins über die Ursprünge der Erkrankung sind. Ihre Behandlung ist dementsprechend von Konzepten wie der Doppelbindungstheorie, der misogynen Idee der schizophrenogenen Mutter und dem Einsatz sehr starker Psychopharmaka geprägt. Andererseits wird die Familie Galvin mit Fortschreiten der Forschung selbst zu einem zentralen Forschungsobjekt. Vielleicht könnte eine Familie, in der Schizophrenie derart gehäuft auftritt, dazu beitragen, die Erkrankung besser zu verstehen und genetische Risikofaktoren oder Biomarker zu finden? Wie weit ist die Wissenschaft heute, wenn es um Schizophrenie geht?
Robert Kolker wechselt im Buch immer wieder die Perspektive und erzählt sowohl vom Leiden der Familie als auch von der parallel ablaufenden medizinischen Forschung. Besonders den Schwestern Mary und Margaret wird Raum gegeben, über ihre traumatischen Erlebnisse mit den erkrankten Brüdern zu sprechen. Für Psychologieinteressierte ist Hidden Valley Road wirklich ein Muss!
Robert Kolker: Hidden Valley Road. Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind. btb Verlag. 512 Seiten. 14,00 €.
Anita Blasberg – Der Verlust
Dieses Buch ist bereits 2022 erschienen und es verwundert mich nach wie vor, wie wenig darüber diskutiert und gesprochen worden ist. Ausgangspunkt des Buches ist eine politische Haltung, die man mittlerweile wohl gemeinhin Politikverdrossenheit nennt. Ein genereller Fatalismus gegenüber politischen Herausforderungen, ein allgemeines Misstrauen gegenüber politischen Entscheidungsträger:innen, die Blasberg, selbst Journalistin bei der ZEIT, an ihrer Mutter bemerkt. Die war einmal politisch interessiert und engagiert, jetzt hat sie erhebliche Zweifel daran, dass Medien korrekt berichten oder die Politik grundsätzlich das Gute im Sinn hat. Was ist also passiert?
Es wäre nun natürlich einfach, Anita Blasbergs Mutter einfach zu jenen zu zählen, die von Verschwörungserzählungen zum generellen Zweifel verleitet worden sind. Man könnte einfach behaupten, mit einundsiebzig Jahren sei sie nicht mehr medienkompetent genug und glaube deshalb den falschen Leuten. Aber vielleicht ist es auch nicht ganz so simpel. Anita Blasberg begibt sich auf Spurensuche und zeigt, beginnend bei der deutschen Wiedervereinigung, eine Reihe von Entwicklungen und Veränderungen auf, die zu einem Vertrauensverlust innerhalb der Bevölkerung geführt haben.
Es geht dabei um die Treuhand, die Finanzkrise und ihre Folgenlosigkeit für die Verantwortlichen, das politisch gewollte Kaputtsparen des öffentlichen Sektors und die Privatisierung des Gesundheitssystems, um Stuttgart 21, Hartz IV, den rassistischen Anschlag in Hanau, die Klimakrise, Lobbyismus und die immer größer werdende Kluft zwischen dem, was Politiker:innen sagen und dem, was sie dann tatsächlich auch tun.
Anita Blasberg gelingt es, ein detailliertes Bild gesellschaftspolitischer und kultureller Entwicklungen der letzten dreißig Jahre nachzuzeichnen und dabei den Finger in viele Wunden zu legen, die nicht einfach abgetan werden sollten. Gerade weil billige Stammtischparolen in den letzten Jahren erheblich an Lautstärke im Diskurs gewonnen haben, braucht es Bücher wie Der Verlust, um substantielle Kritik sichtbar zu machen. Es gibt Gründe für die Erosion von Vertrauen und es lohnt sich, diese Gründe unvoreingenommen anzusehen. Wenn wir diese Gründe erkannt haben, ergeben sich aus ihnen mögliche Lösungsansätze. Wie kann Vertrauen zurückgewonnen werden? Was kann, was muss anders laufen?
Dieses Buch macht einen wirklich klüger!
Anita Blasberg: Der Verlust. Rowohlt Verlag. 400 Seiten. 23,00 €.
Jörg-Uwe Albig – Moralophobia
Auch Moralophobia ist eigentlich bereits 2022 erschienen, ich kam allerdings erst jetzt dazu, es zu lesen. Heute ist es in Debatten gang und gäbe, anderen die „Moralkeule“ vorzuhalten, wenn in Bezug auf politische Fragen von Werten und Moral gesprochen wird. Viele sind der Ansicht, in der Politik habe die Moral nichts verloren, einigen gilt Moral gar als Schimpfwort. „Moralismus“ meint, so die Kritik, häufig nur Prinzpienreiterei und Besserwissertum und begünstigt die eigene individuelle Überhöhung gegenüber denen, die „moralisch falsch“ denken oder handeln. Und fraglos gibt es in zeitgenössischen Debatten auch Dynamiken, die wenig zu einem friedlichen, lösungsorientierten Miteinander beitragen. Aber ist Moral wirklich das alleinige Problem?
Jörg-Uwe Albig unternimmt in Moralophobia eine Zeitreise und beschäftigt sich mit berüchtigten Moralkritikern der Geschichte: Götz von Berlichingen, Niccolò Machiavelli, Marquis de Sade, Friedrich Nietzsche, Bertolt Brecht, Arnold Gehlen oder Al Capone und Donald Trump. Viele dieser Männer eint, so jedenfalls die Perspektive Albigs, persönlicher Misserfolg und der Versuch, diese ehrabschneidenden Misserfolge in etwas Erträglicheres, Selbstwertdienliches umzudeuten. Gesellschaftliche Umbrüche, wie etwa im Falle von Götz von Berlichingen der Machtverlust des alten Ritteradels, führen zu einem Backlash bei denen, die ihre gewohnten Strukturen verlassen und Privilegien aufgeben müssen.
Machiavelli verliert unter den Medici sein Sekretärsamt und kommt nicht wieder in Amt und Würden. Stattdessen schreibt er Der Fürst, das manchem noch heute als Handbuch kluger politischer Strategie erscheinen mag. Tatsächlich kann man es auch als Abrechnung eines Mannes lesen, der gescheitert und verbittert ist:
„Doch Machiavelli will ja nicht die Welt zeigen, wie sie sein soll. Seine Vorschläge spiegeln die Welt, wie er sie erlitten hat. Moral ist ein schöner Traum, aus dem er erwacht ist. Wer gut sein wolle, warnt er, müsse ‚zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind‘. ‚Der Fürst‘ ist die Denkschrift eines Verbitterten, eines Zerstörten. Und es ist der trotz allem fast kindliche Versuch der Einfühlung in den Starken, der ihn geprügelt hat – und der eine Macht besitzt, von der Machiavelli, als er das Buch schreibt, weiter entfernt ist als je zuvor. In ihr schimmert ein Muster durch, das wir in den Kraftanbetungen der Moralverächter immer wieder vorfinden: die Identifikation des Getretenen mit dem Aggressor.“
Jörg-Uwe Albigs Beobachtungen sind sicherlich nicht allgemeingültig auf jeden anzuwenden, der moralisierende Debatten kritisiert. Sein Buch zeigt aber auf sehr eindrückliche Weise, welche (persönlichen und gesellschaftlichen) Abwehrreflexe hinter Moralkritik stecken können. Auch wenn sie sich als besonders durchdacht und erhaben präsentiert.
Jörg-Uwe Albig: Moralophobia. Klett-Cotta Verlag. 224 Seiten. 22,00 €.
Zum Schluss, in aller Kürze, meine persönlichen Top Ten des Jahres 2023, jeweils mit einem Link zum Verlag, wo ihr mehr nachlesen könnt!
Damit das hier nicht ausufert, verzichte ich auf weitere Kommentare zu den einzelnen Titeln. Die Reihenfolge ist keine Wertung.
1. Ronen Steinke: Verfassungsschutz
2. Franziska Grillmeier: Die Insel
3. Jens Balzer: No Limit. Die Neunziger
4. Asha Hedayati: Die stille Gewalt
5. Dipo Faloyin: Afrika ist kein Land
6. Moshtari Hilal: Hässlichkeit
7. Oliver Hilmes: Schattenzeit
8. Peter R. Neumann: Logik der Angst
9. Adrian Daub: Cancel Culture Transfer
10. Jessikka Aro: Putins Armee der Trolle
Ich wünsche euch allen einen möglichst stressarmen Dezember, ein entspanntes Weihnachtsfest und viele gute Bücher!
Wenn euch der Newsletter gefällt, sagt es gern weiter.
Herzlich
Sophie